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REZENSIONEN

ADOLESCENCE: NETFLIX-SERIE LÖST DEBATTE ÜBER TOXISCHE MÄNNLICHKEIT AUS Über 24 Millionen Streams allein in Großbritannien innerhalb einer Woche, Premierminister Keir Starmer spricht über die Serie im Parlament - außerdem belegt sie in 79 Ländern den Spitzenplatz der Netflix-Charts. “Adolescence” ist es gelungen, eine längst überfällige Debatte über toxische Männlichkeit und Frauenhass anzustoßen. Die Serie (Drehbuch Jack Thorne und Stephen Graham, Regie Philip Barantini) erzählt die Geschichte des 13-jährigen Jamie Miller (brillant gespielt von Owen Cooper), dem der Mord an seiner Mitschülerin Katie vorgeworfen wird. Eigentlich geht es aber um viel mehr: Es geht um eine Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs, die dem Phänomen männlicher Gewalt scheinbar hilflos ausgeliefert ist. Es geht um überforderte Eltern, Lehrer*innen ohne jede Autorität und Jugendliche, die von ihren Mobiltelefonen vereinnahmt wie auf einem fremden Planeten leben. Damit Detective Inspector Luke Bascombe (Ashley Walters) ermitteln kann, muss ihm erstmal sein Sohn Adam (Amari Bacchus) erklären, welche Bedeutung die Emojis in der Manosphere haben - Social Media Skills, die heutzutage wichtig für die Aufklärung von Morden sind. Jamies Vater Eddie (Stephen Graham) quält sich unterdessen mit der Frage, inwieweit er Schuld an der Tat seines Sohnes trägt, weil er ihn unbeaufsichtigt am Computer sitzen ließ und zu einem “echten Kerl” erziehen wollte. Polizeipsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) versucht herauszufinden, ob der milchgesichtige Jamie überhaupt wusste, was er mit seiner Tat verursacht hat. Hochinteressant und beklemmend auch die vierte Episode, in der Jamies Familie den Geburtstag von Vater Eddie feiern will - aber angesichts der bevorstehenden Gerichtsverhandlung, bei der der eigene Sohn auf der Anklagebank sitzt, keine rechte Stimmung aufkommen will. Interessant ist hier die Darstellung der unterschwelligen Gewalt, die von Jamies Vater ausgeht. Auch wenn er nicht handgreiflich wird, sind seine Frau Manda (Christine Tremarco) und seine Tochter Lisa (Amelie Pease) in einer fast unerträglichen Passivität gefangen. Statt authentisch ihre Gefühle auszudrücken, sind sie durchgehend bemüht, nur ja nichts “falsch” zu machen, damit Eddie nicht ausrastet. Dieses Kreisen um die Perspektive des Sohnes und des Vaters / Ehemannes steht exemplarisch für eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse von Mädchen und Frauen - wenn überhaupt - ganz unten auf der Prioritätenliste stehen. Eine Gesellschaft, in der allein die Möglichkeit männlicher Gewalt dazu ausreicht, den Frauen die Luft zum Atmen zu nehmen. Von freier Entfaltung ganz zu schweigen. Um sich nicht zu gefährden, leben sie in ständigem vorauseilenden Gehorsam. Wenn das absichtlich so gesetzt wäre, dann wäre es genial. Leider vernachlässigt die Serie insgesamt stark die weibliche Perspektive. Die Polizistin Faye Marsay (Misha Frank) läuft ihrem Kollegen wie eine Anfängerin planlos hinterher und hat so gut wie keinen Text, außer wenn sie Bascombe Tipps für den Umgang mit seinem Sohn gibt (Care-Arbeit wird Frauen ja bekanntermaßen zugetraut). Nur in der dritten Episode gibt es mit der Polizeipsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) so etwas wie eine weibliche Hauptfigur. Ansonsten kreist die Serie hauptsächlich um den Täter, seinen Vater und Detective Bascombe. Für das Mordopfer und ihre Familie interessiert sich kaum jemand. Die Serie reproduziert dadurch das gesellschaftliche Problem, das toxischer Männlichkeit und Frauenhass Tür und Tor öffnet: Die fehlende Sichtbarmachung und Wertschätzung von weiblichen Sichtweisen und Bedürfnissen. Wie geht es Katies Eltern und eventuell Geschwistern? Wie findet Katies beste Freundin Jade (Fatima Bojang) einen Weg, mit dem Mord an ihrer Freundin umzugehen? Wie können die Mädchen an der Schule mit der dort herrschenden Gewalt weiterleben? All dies wird gar nicht oder kaum thematisiert. Stattdessen wird bei Jade das Stereotyp der "Angry Black Woman" reproduziert, wodurch sie uns seltsam fremd bleibt. Die Hauptschuld an dem Mord wird den sozialen Medien gegeben und nicht den patriarchalen Strukturen, die auch im realen Leben Misogynie und Gewalt befeuern - und das, schon lange bevor es Mobiltelefone gab. Trotz dieser Wermutstropfen ist “Adolescence” aber absolut sehenswert.

ANORA: 5 OSCARS FÜR TOXISCHE NARRATIVE Während Sean Bakers mit fünf Oscars prämierter Film als respektvolle Studie marginalisierter Gruppen gefeiert wird, offenbart sich bei genauerer Betrachtung das Gegenteil: "Anora" ist weder gut recherchiert noch feministisch – sondern schlicht überflüssig. Der Film scheitert an drei zentralen Punkten: der fast durchgängig passiven Hauptfigur, die kaum Einfluss auf die Handlung nimmt, der problematischen Darstellung von Sexualität und dem dominierenden "Male Gaze". Diese Aspekte durchziehen den gesamten Film und machen ihn zu einem Rückschritt in der Repräsentation von Frauen im Kino. Die Geschichte folgt der Sexarbeiterin Ani (gespielt von Mikey Madison), die sich auf eine Beziehung mit dem Sohn eines russischen Oligarchen einlässt und letztlich von ihm verlassen wird. Doch bereits in der Konzeption dieser Hauptfigur zeigen sich die Schwächen des Films: Ani hat keine eigenen Ziele im Leben – außer, sich von einem reichen Mann retten zu lassen. Was als vermeintlich realitätsnahe Darstellung verkauft wird, entpuppt sich als eindimensionales Frauenbild. Besonders problematisch ist die Darstellung von Anis Sexualität. Sie wird ohne eigene sexuelle Bedürfnisse gezeigt – beim Sex scheint sie völlig von ihrem Körper abgespalten, fühlt weder Schmerz noch Lust. Dies deutet auf die Reinszenierung eines Traumas hin und steht im krassen Widerspruch zum Narrativ einer selbstbestimmten Sexarbeiterin, das der Film vorzugeben versucht. Die Sex- und Strip-Szenen offenbaren dabei ein grundlegendes Problem der Inszenierung. Der "Male Gaze" dominiert die Einstellungen – konkret zeigt sich das in unzähligen voyeuristischen Kameraaufnahmen zwischen die Beine der Darstellerinnen. Laut Aussage der Hauptdarstellerin gab es keine Intimacy Koordination am Set – einer so jungen Darstellerin diese Szenen ohne professionelles Sicherheitsnetz zuzumuten, ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern führt auch zu filmisch monotonen Ergebnissen: langweiliger „Rammel-Sex“, bei dem Ani sich „benutzen" lässt und nicht im Ansatz auf ihre Kosten kommt. Diese Dynamik setzt sich auch nach der Las-Vegas-Hochzeit fort. Eine Beziehung auf Augenhöhe entsteht nicht. Bis zur völligen Selbstaufgabe bleibt Ani ihrem Mann untergeordnet – ohne Ambitionen, ohne Hobbys und ohne eigene soziale Kontakte verbringt sie ihre Zeit damit, ihm beim Computerspielen zuzusehen. Hat sie denn nichts besseres zu tun? Ihre Charakterentwicklung bleibt auf der Strecke, während stereotype Geschlechterrollen zementiert werden (schrecklich auch die böse Schwiegermutter, die an die Stiefmütter aus vielen Märchen erinnert). Die Gewaltdarstellung im zweiten Teil des Films verstärkt die problematische Grundhaltung noch. Die Szene, in der Ani minutenlang festgehalten, gefesselt und geknebelt wird, ist nicht nur schwer zu ertragen, sondern in ihrer exzessiven Länge auch unnötig voyeuristisch. Sie zeigt eine junge Frau, die zwar versucht sich zu wehren, im Endeffekt aber daran scheitert. Das ist wenig empowernd. Bei der anschließenden Suche nach ihrem Ehemann lässt Ani mehrfach Gelegenheiten zur Flucht ungenutzt – im Restaurant, vor Gericht und während der Eheannullierung. Hier hätte die Möglichkeit bestanden, die Geschichte zu drehen und Ani zu ermächtigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Eine alternative Handlung, in der sie beispielsweise mit Hilfe der anderen Sexarbeiterinnen die Machtverhältnisse umkehrt und die schwerreiche russische Familie zur Verantwortung zieht, wäre nicht nur spannender, sondern auch zeitgemäßer gewesen. Stattdessen ist sie sogar noch so ungeschickt, den Eheaufhebungsvertrag zu unterschreiben. Empowerment? Fehlanzeige. Die dargestellte Konkurrenzsituation mit der Figur Diamond (einer anderen Sexarbeiterin) untermauert das problematische Frauenbild zusätzlich. Anstatt Solidarität unter marginalisierten Personen zu zeigen, bedient sich der Film des abgenutzten Narrativs weiblicher Konkurrenz um männliche Gunst. Der absolute Tiefpunkt wird erreicht, als die Protagonistin sich am Ende mit sexuellen Gefälligkeiten bei einem Mann dafür bedankt, ihr ihren wertvollen Ehering wieder beschafft zu haben. Die implizite Botschaft: Frauen müssen für die Wiedergutmachung von Unrecht eine Gegenleistung bringen - obwohl das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Dass derselbe Mann sie kurz zuvor gekidnappt und gefesselt hat, scheint schnell vergessen. Deutlich besser wäre gewesen, Ani hätte sich den Ring selbst wieder beschafft. Auch in Bezug auf Homophobie zeigt der Film erhebliche Defizite. Mehrfach werden Figuren als schwul und als „Rosettenf!*ker“ beschimpft, ohne dass dies kritisch eingeordnet oder kontextualisiert würde. Die diskriminierenden Äußerungen bleiben unkommentiert im Raum stehen. Zurück bleibt der Verdacht, dass hier ein Regisseur einer jungen Schauspielerin eine Rolle auf den Leib geschrieben hat, die primär seinem eigenen Voyeurismus dient. Dass der Film dafür mit fünf Oscars belohnt wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf die anhaltenden Probleme der Filmindustrie. Fazit: "Anora" ist ein langweiliger, unnötiger, altbackener Film ohne zeitgemäße Geschlechterdarstellung und ohne ethische Produktionsstandards, der toxische Narrative unhinterfragt reproduziert. In einer Zeit, in der fundierte Repräsentation marginalisierter Gruppen wichtiger denn je ist, bleibt nur zu wünschen: Mögen in Zukunft diejenigen Filme über bestimmte Themen machen, die zumindest ansatzweise etwas davon verstehen. Keine Empfehlung!

POOR THINGS - EIN FEMINISTISCHER FILM? Poor Things handelt von Bella, einer jungen Frau, der das Gehirn ihres eigenen Babys eingepflanzt wurde und die sich demnach geistig auf dem Stand eines Kleinkindes befindet. Da sie gesellschaftliche Gepflogenheiten weder kennt noch versteht, eckt sie mit einigen Männern an, die sie zähmen und besitzen wollen. Auf die Art und Weise werden patriarchale Strukturen auf unterhaltsame Weise sichtbar gemacht. Trotzdem eignet sich der Film (Drehbuch Tony McNamara, Regie Giorgos Lanthimos) kaum für female empowerment. Das liegt einerseits daran, dass er wenig glaubwürdig über weibliche Sexualität erzählt. Themen wie Periode, Verhütung oder Geschlechtskrankheiten werden komplett ausgespart, was vor allem deshalb verwunderlich ist, weil es in dem Film in weiten Teilen darum geht, wie Bella ihren Körper entdeckt. Wenn man die Prämisse der Geschichte ernst nimmt, haben in dem Film deutlich ältere Männer Sex mit einem Kleinkind im Körper einer Frau. Ein Kleinkind hat aber nicht die geistige Reife und das nötige Wissen für Konsens, weswegen der Film eigentlich ein Film über sexuellen Missbrauch ist. Dieser wird aber als solcher nicht benannt oder problematisiert. Funktionieren kann das nur, weil Bella in den Intimszenen plötzlich kein kindliches Verhalten mehr an den Tag legt - sonst wäre die Szenen wohl kaum zu ertragen. All die Gewalt, die sie erlebt, scheint spurlos an ihr vorüberzugehen. Selbst die Arbeit im Bordell mit liebloser Kundschaft kann ihr angeblich nichts anhaben. Widerliche alte Typen über sich drüberrutschen zu lassen, wird zum feministischen Akt der Befreiung erklärt. Emma Stone ist in weiten Stecken des Films nackt, oft auch auf unnötige und voyeuristische Weise. Die Sexszenen bedienen vor allem den Male Gaze und zeigen kein spielerisches Entdecken der oder Herantasten an ihre Sexualität. Wie ihre Lust dabei angeblich befriedigt werden soll, bleibt anatomisch fragwürdig. Insgesamt zeigt der Film eine sehr männliche Perspektive auf weibliche Sexualität, die wenig mit der Realität zu tun hat. Auch sonst merkt man dem Film an, dass er von einem fast rein männlichen Team erschaffen wurde. Besonders schade ist dabei, dass nur junge, schlanke Frauen als sexuell attraktiv und begehrenswert dargestellt werden, alte Frauen hingegen als vertrocknete Gouvernanten oder alte Jungfern. Erfrischend ist hingegen, mal eine Frau auf der Leinwand zu sehen, die aktiv Sex einfordert und damit Männer überfordert und vor den Kopf stößt - auch wenn ihr Kleinkindgeöhirn im Endeffekt nicht wirklich weiß, worauf sie sich einlässt. Insgesamt bleibt die Figur der Bella eine skurrile Neuinterpretation des patriarchalen Ideals der Kindfrau, die sexuell unerfahren und dem Mann damit unterlegen ist - dabei aber stets verfügbar. Dank ihrer Unerfahrenheit bedroht sie den Mann im Bett nicht durch eine reife, erwachsene Sexualität oder gar der Forderung nach Nähe. Es wäre interessant gewesen, die Männer auch daran scheitern zu sehen.

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